Himmelstor

Himmelstor

Liebe Leserin, lieber Leser

Du musst wissen, dass ich mich gerne drücke, wenn es darum geht, mich ins Licht zu stellen und das zu übernehmen, wofür ich hier zu sein scheine. Ich leide darunter, angegriffen zu werden, wäre viel lieber von jedermann geliebt, möchte es lieber allen recht machen. Jemand, der sein Licht nicht mutlos unter einen Scheffel stellt - wie mal geschrieben stand - bietet Fläche für Projektionen jeglicher Art. Und all diese Projektionen, ob "gute" oder "schlechte", sind ausnahmslos eine Belastung; die für mich schlimmste Projektion wäre wohl meine Erhebung zu dem was ich bin: Schamane. Denn was ein Schamane alles zu sein hat, ist eine Projektion des jeweiligen Betrachters. Soweit ich weiss, sind Schamanen und Schamaninnen in erster Linie aber alle ganz bestimmt etwas: Menschen aus Fleisch und Blut. 

Meine Erzählungen sind darum immer persönlich geprägt, weil ich es war, die sie erlebt hat. Trotzdem gehen meine Wahrnehmungen über die psychologische Grenze hinweg, es ist auf diese unsere westliche Sichtweise nicht alles erklärbar. Das macht mich angreifbar, können es aus dieser Sicht eben doch meine Hirngespinste sein - schlussendlich habe ich sogar alles nur erfunden? Diese Verknotung der Realitäten wird sich nie auflösen lassen, trifft doch im Kopf jedes Menschen das gesamte Universum in einem Punkt zusammen. Jeder Mensch hat in sich nicht nur alle Arten von Lebensäusserungen seiner Spezies abrufbar, sondern auch die jeglicher Art von Lebensäusserung. Dies geht alles weit über meinen dürftig geschulten Verstand hinaus und zeitweise hasse ich mich für die Möglichkeit einer solchen Sicht. Wenn ich mich nun doch nach und nach dazu durchringe, meine Erlebnisse zu erzählen, dann hat das auch mit der nun folgenden schamanischen Reisegeschichte zu tun.


Ich lag bei meiner Weiher-Weide vom Wunsch erfüllt, über mich genaueres zu erfahren, als ich in die Lüfte emporgehoben wurde und mich von meinem Platz entfernte, solange, bis ich mich in der tiefen und unendlichen Ruhe des Weltalls leicht fröstelnd wiederfand. Um mich herum war von Anfang an stetige Bewegung, welche ich nicht erkennen konnte, aber am ehesten als eine Art hellpulsierende Nebelschwaden beschreiben kann. Im All wurde ich allein gelassen, den Dingen harrend. Mein Körper war ganz Ohr, doch ich hörte absolut nichts. Welche Beruhigung, welche Wohltat. Mein Geist ebnete sich und wurde flach wie Öl. Ich war die Weite des Alls und bemerkte das Leben. 

Da öffnete sich ein hellscheinendes Tor neben mir, welches gänzlich mit einem Wasserfilm überzogen war. Es sog mich auf. Nun befand ich mich in einer Kugel zusammen mit einem Stuhl und einem Kostüm mit Engelsflügeln, in einer Umziehgarderobe. Die Kugel selbst war aus den hellpulsierenden Nebelschwaden gebildet. Ich bemerkte, dass ich von aussen her von riesigen Wesenheiten beobachtet wurde. Das auffälligste an Ihnen waren die Gesichter, in deren Mitte storchenschnabelähnliche Verzerrungen herausragten. Ich erkannte, dass die Kugel, in welcher ich mich befand, aus ihren Körpern geformt war, dass sie selbst die Kugel bildeten. Da öffnete sich ein weiteres Tor, formgleich wie das erste. Ich ging hindurch und da war Licht. 

Die Wesen mit den Storchenschnäbeln kamen zu mir, sie pulsierten, die Schnäbel verschwanden. Jetzt hatten sie ein menschliches Antlitz und schlangenähnliche Körper. Wunderschön waren Ihre Flügel, die gar keine waren. Von der Form her am ehesten wie Schmetterlingsflügel, waren diese Flügel aber gar nicht greifbar und veränderten ihre Form in einem fort. Ich sah, dass sie nicht zwei Flügel hatten, sondern mindestens vier, wahrscheinlich sechs, vielleicht gar acht. Die Flügel bewegten sich um sie herum und waren nicht nur an ihren Seiten, wie wir dies bei Vögeln oder Schmetterlingen kennen. Die Wesen bewegten sich mit Hilfe dieser Flügel fort, flogen aber nicht. Sie hatten wie wir Menschen zwei Beinen und eine aufrechte Körperhaltung. Sie waren das Licht, welches ich sah und das Licht war die Wesen. Eine unauflösbare Einheit. Da führten sie mich zu einem Thron, der da abseitsstand. Es war ein mächtiges, schwer erscheinendes Möbel, etwas erhöht, am Rande des Lichts, schon halb im Weltenall.

«Das ist dein Thron», sagten sie. 

Ich lehnte ab: «Das kann doch nicht sein!»

«Siehst du, er ist verwaist. Da ist kein Licht, weil du ihn nicht ausfüllst», antworteten sie. 

«Du bist geboren, um zu erzählen. Erzähle, was du weisst. Wisse, dass du bist im Erzählen. Im Erzählen liegt Deine Kraft.» 

Ich stand vor dem Thron und sah. Da gab es kein Entrinnen. Erzählte ich nicht, so bliebe es dunkel und verlassen, hier und in der Alltagswelt. Ich hätte mich umsonst auf den Weg gemacht und mein Platz bliebe verwaist - hier und in der Alltagswelt. 

«Richtig!», sagten die Wesen. 

«Du fängst an, dich wieder zu erkennen. Erzähle! wie du es schon als Kind getan hast. Erzähle! damit es hell werde hier und in der Alltagswelt. Erzähle! und die Geschichten werden zu dir kommen, durch dich entstehen und sein».

Sie zogen sich langsam zurück, mich und den verblassenden Thron im dunkler werdenden All zurücklassend. 

Ich rief: «Wer seid ihr denn?» 

Sie drehten sich um, schauten zu mir zurück und sagten: «Wir sind Seraphim.»


Hart war die Landung im welken Gras unter meiner Weiher-Weide. Eine Amsel machte sich mit alarmierendem Gepfeife auf und davon und die ersten Regentropfen fielen mir ins Gesicht.

Und ich erwachte aus der Wachheit zu neuem Alltagsschlaf auf dem Fussboden meines Arbeitszimmers.

Lommis, Herbst 2001

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