Heilreise für Großvater 2003
Ich setzte mich mit meiner Rassel auf den Boden und fing rasselnd an, mich vorzubereiten. Ich wollte eine schamanische Reise zu Großvater unternehmen, um ihm zu helfen. Da er nach meiner und Madeleines Einschätzung dem Tode nahe war, würde es keine einfache Aufgabe werden, das war mir bewusst. Alles, was ich tun konnte, war, Kraft zu geben. Wie sich diese auswirken würde, wusste ich nicht. Entsprechend aufgewühlt war ich. Und so begab ich mich auf die Heilreise für Großvater.
Der Mann ist groß und kommt direkt auf mich zu. Die Weite der Steppe hinter sich lassend, wirbeln seine Schritte den Staub des vergangenen regenfreien Monats auf. Sein Gesicht verschwimmt in der drückenden, flirrenden Hitze – es ist nicht zu erkennen. Lange schwarze Haare fallen über seine Schultern auf seinen nackten, muskulösen Oberkörper bis zur Hüfte, wo ein mächtiges Schwert auf den Boden zeigt. Der Schwertgriff lugt wie ein gebogenes Kreuz hinter seiner rechten Schulter hervor. Während ich schwebe und ihn beobachte, sehe ich meinen Körper in Großvaters kleiner Wohnung, am Boden sitzend und vornübergebeugt die Rassel schüttelnd. Gleichzeitig sehe ich mich am Fußende von Großvaters Bett sitzen. Ich rieche das großzügig verwendete Desinfizierungsmittels und fühle mich hilflos zu seinen Füßen. Was soll ich tun? Wie soll ich ihm helfen können, meinem Lehrer und Großvater, dem großen Schamanen? Heiß steigt es in mir auf, und ich sehe, wie ich in der Wohnung, die Rassel schüttelnd, weine.
Auf der Straße ist der Fremde zielstrebig in Richtung Holzhaus weitergegangen. Ich schwebe körperlos um ihn herum, als ich mich abrupt in einen Tuva-Krieger aus längst vergangenen Zeiten verwandele, mir selbst vom Äußeren her völlig unbekannt. Doch unbestreitbar bin ich es, der nun den fremden Langhaarigen als Tod erkennt, sein Schwert zieht, sich von dem Fremden abwendet, ihm vorauseilt und das Holzhaus durch Wände gehend betritt. Ich finde Großvater völlig entkräftet im Bett liegend vor. Zu seinen Füßen sitzt mein zweites ich, zaudernd und hoffend, doch erschreckt über die Heftigkeit des Kriegers, der ich auch bin. Ich hebe mein Schwert zum vernichtenden Schlag, und Sekunden später windet sich eine riesige Schlange aus dem auseinanderklaffenden Körper meines Großvaters. Am Fußende sitzend, denke ich schockiert, ob dies wohl das Krafttier meines Lehrers sei, doch als Krieger schlage ich der Schlange, ohne zu zaudern, den Kopf ab und werfe ihn und den leblosen, langen, schweren Körper in den Vorhof hinaus. Schwebend sehe ich zu, wie sich draußen Raben und Adler über die Schlangenleiche hermachen und sie sehr schnell vertilgen. In dem toten, auseinanderklaffenden Körper meines Großvaters sind noch Schlangeneier vorhanden, und ich denke, von der Decke hinunter schauend, darüber nach, ob der Sitzende diese Eier entfernen sollte. Plötzlich tauchen aus dem Nichts einige Hühner auf und machen sich gierig über diese Leckerbissen her. Sobald der Körper vollständig von den Schlangeneiern befreit ist, verschwinden die Hühner genau so plötzlich, wie sie gekommen sind. Der Tuva-Krieger ist nun nicht mehr zu sehen. Ich erhebe mich vom Bett, gehe zu dem Leichnam und blase in den geborstenen Leib. Weißes Licht durchströmt mich dabei und findet durch meinen Mund den Weg in Großvaters Körper. Die Wunde schließt sich, das Leben kehrt zurück. Großvater ist völlig entkräftet, aber ruhig. Er setzt sich auf, lächelt mich an und sagt, er habe Hunger.
Da füllt sich das Zimmer mit seinen Ahnen, ein Raunen geht durch den Raum, schattenhafte Wesen bewegen sich wie sanfte Wellen eines Gebirgssees durchs Zimmer und dessen Wände. Schwebend höre ich mich denken: „Bitte, ihr Ahnen, es ist noch nicht Zeit. Ich bitte euch, wenigstens noch ein einziges Mal soll mich mein „Großvater behandeln können. Ich bitte euch, lasst ab von ihm und beschützt ihn weiter.“ Nach einiger Zeit leert sich der Raum. Großvater hat sich wieder hingelegt. Ich weiß, er schläft nun den entscheidenden Schlaf, aus dem er in diese oder in die andere Welt erwachen wird. Es gibt hier nichts mehr zu tun, es gilt nun, zu warten. Ich verlasse das Intensivzimmer und das Holzhaus, mich selbst von oben herunter teilnahmslos beobachtend. Hinaustretend sehe ich, dass sich der Tod abgewandt hat und zurück in die Steppe geht. Mit einem körperlich empfundenen Schlag finde ich mich gleich darauf in Großvaters Wohnung zurückgekehrt, wo ich mich selbst im Schneidersitz am Boden sitzend rasseln sehe. Danach kehre ich in meinen Körper zurück und lege meine Rassel zur Seite.
Ich fand keine Worte, um Madeleine zu erzählen, was ich erlebt hatte. Ich stammelte irgendetwas von „der Tod kam und ist wieder gegangen, vielleicht wird er es überleben …“ Bis ins Innerste erschüttert ging ich zu Bett und fand lange keinen Schlaf.
Früh am nächsten Morgen kam Großmutter zu uns in die Wohnung. Ihren Gesten und einzelnen russischen Wörtern entnahmen wir, dass sie direkt von Großvater kam und nun die Übersetzerin Ailana Kenden holen wolle. Wir warteten etwa zweieinhalb Stunden, bevor die Beiden zurück waren. Großmutter erzählte uns nun, dass man sie in der Nacht zu Großvater gerufen habe, weil die Ärzte davon ausgingen, dass er sterben würde. Gegen Morgen sei er eingeschlafen, und sie sei zu uns gekommen. Sie wolle uns zu ihm bringen, damit wir uns von ihm verabschieden könnten. Madeleine erklärte den beiden Frauen, ich hätte in der letzten Nacht schamanisch für Großvater gearbeitet, was mir in der gegebenen Situation peinlich war. Das Schlimmste erwartend, gingen wir zum Krankenhaus. Als wir in den Vorhof kamen, verschlug es uns allen vor Verblüffung die Sprache. Großvater Saryglar stand im Hof und erwartete uns – rauchend! Nachdem sie ihren Schock überwunden hatte, erzählte Großmutter ihm kurz von meiner Fernbehandlung. Er schaute mich an und erwiderte trocken: „Das weiß ich.“ An mich gewandt fügte er lächelnd hinzu: „Übrigens: Ich habe Hunger!“
Zwei Tage später hatte ich mit ihm und Rollanda im Vorhof des Krankenhauses eine Besprechung.
„Erzähl ihnen, was du erlebt hast und erlebst. Ihr braucht eure Geschichten. Auch du! Dringend“, sagte Großvater.
Auszug aus: Adrian Osswald. „Die Weisse Eule.“