Hasengeschichte 1992
Es war noch vor meiner Zeit als schamanisch Praktizierender, als unser Zwerghase plötzlich seinen Kopf zur Seite hängen liess und sich nicht mehr aufrecht auf den Beinen halten konnte. Jeden Tag - es ging alles sehr schnell - wurde es schlimmer, so dass er bald immer auf seine Seite fiel, kaum hatte er sich aufgerappelt. Ich ging mit dem Hasen zum Tierarzt. Dieser kam zum Schluss, dass man das Tier einschläfern sollte. Er diagnostizierte eine unheilbare, tödlich verlaufende Nervenkrankheit. Auf meine Bitte, dass ich ihn doch nochmals nach Hause mitnehmen wollte, erwiderte der Arzt trocken, dass sich der Hase bei nächster Gelegenheit sein dem Boden zugewandtes Auge an einem Strohhalm ausstechen werde. Das sei wohl - eben auch gerade für Kinder - nicht eben ein schöner Anblick. Zudem leide der Hase, man sollte ihn erlösen. Ich insistierte durch eine plötzliche Eingebung und nahm ihn mit nach Hause, nachdem ihm der Tierarzt murrend noch eine Vitamin-B-Spritze injiziert hatte.
Ich besuchte zu diesem Zeitpunkt einen Traumzirkel bei einem älteren Mann. Er beschäftigte sich schon sehr lange mit Traumdeutung. Einer meiner Grossträume - wie ich sie für mich insgeheim seit Jahren nannte - und die Auslegung der Bedeutung dieses Traumes durch eben diesen Mann war mir beim Tierarzt in den Sinn gekommen. Der Traumspezialist war klar der Meinung, dass ich einen Reinkarnationstraum gehabt und darin eine Initiation zum Schamanen erfahren hätte. Er war ganz beeindruckt. Er hat mir kurz erklärt, dass Schamanen sowas wie Geistheiler seien. Für mich eröffnete sich hier nun eine Gelegenheit, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, gewissermassen im privaten Rahmen zu überprüfen.
Zu Hause brachte ich meinem fünfjährigen Sohn erst einmal schonend bei, dass unser Zwerghase wohl sterben wird. Ich wolle jedoch versuchen, ihm durch Zuwendung zu helfen.
Sachte schob ich dabei meine linke Hand unter den Körper des Zwerghasen und hielt meine rechte Hand wenige Zentimeter über ihn, so dass er nun zwischen meinen Händen lag. Ich sprach zu ihm, zu mir und zum Himmel. Ich war seltsam ruhig und gewiss, daran erinnere ich mich am stärksten. Ich bat darum, dass der Hase gesunden soll. Nach einer Weile bettete ich den Hasen wieder zurück auf seinen Platz, wo er zuvor gelegen hatte.
Am nächsten Morgen ging der Zwerghase umher, zwar noch immer mit schiefem Kopf, aber er ging und konnte sich aufrecht halten. Ich war erstaunt und doch auch nicht. Ich rief den Tierarzt an und der verlangte den Hasen zu sehen.
«Da haben Sie Glück gehabt», meinte er.
«Die Vitaminspritze muss wohl doch gewirkt haben», erwiderte ich.
Er schaute mich einen kurzen Augenblick eigentümlich an. Dann sagte er:
«Wer weiss, bislang hat bei dieser Krankheit nichts geholfen - auch nicht hohe Dosierungen Vitamin B».
Ich ging nach Hause und wusste nicht, was ich glauben sollte. Die Spritze wird es wohl doch gewesen sein, oder der Arzt hatte eine falsche Beurteilung am Vortag gemacht, was wusste ich. Und so schlug ich die Möglichkeit, ein Geistheiler zu sein, weiterhin aus.
Der Hase aber lebte noch einige Jahre weiter. Inzwischen hatte ich damit angefangen, Schamanismus zu erlernen und zu praktizieren. Eines Abends, als ich nach Hause kam, lag er dann wieder in seinem Laufkäfig. Dies tue er schon seit dem Morgen, liess mich meine Frau wissen. Ich brachte ihm Wasser, welches er mühsam trank. Wieder nahm ich ihn zwischen meine Hände, sprach zu ihm, zu mir und dem Himmel. Plötzlich hatte ich die Gewissheit, dass er nun sterben würde. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber die mir bekannte Ruhe und Gewissheit war da. Der Hase hob seinen Kopf, schaute mich an, legte sich zurück und stiess seinen letzten Atem aus. So starb er, ganz ruhig und Jahre nach meiner ersten schamanischen Erfahrung mit ihm. Heute ist mein damaliges intuitives Wissen zur Gewissheit gereift, dass ich ihm in diesem Moment auch geholfen hatte. Ich hatte ihm geholfen, abzuschliessen und loszulassen. Und er hatte mir zum zweiten Mal die Gelegenheit geboten - unter Einsatz seines Lebens - schamanisch zu lernen. Er war ein guter Lehrmeister und dafür bin ich ihm dankbar.
Lommis, Sommer 1998